Auszug aus “Die andere Haut” von Carmen Schnitzer

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Die andere Haut

Carmen hatte ich schon im Blog mit ihrer wunderbaren Kurzgeschichte “Im Mandarinenwald”. Nun erscheint mit “Die andere Haut” ihr Debütroman. Nach dem Klick ein Auszug aus eben diesem Buch.

“Es ist ihre fünfte Nacht in Belmondos Pension. Lara liegt wach im Bett, der Vollmond scheint ihr ins Gesicht, sie ist halb wahnsinnig vor Verlangen und Lust. Ricardos Finger, die ihr federleicht über den Bauch streichen, eine Handbreit unter dem Nabel, dann die Schenkel entlang, er umstreift sie, berührt sie, berührt sie dann wieder nicht und guckt sie nur an, verteilt kleine Küsse auf ihren Schultern, ihren Augenlidern, bis alles in ihr nach ihm schreit. Sein Gewicht, das warme Flüstern an ihrem Ohr, seine Fremdheit, sein Duft und ihre Sprachlosigkeit. Er ist in ihr, immer noch, nach all den Jahren.
Dann wieder überlagert Davids Gesicht die Szenerie, seine geschlossenen Augen, wenn er träumt, schließlich lächelt und blinzelt im Halbschlaf, weil er Laras Blicke bemerkt. Er hebt den Arm, damit sie unter seine Decke schlüpfen kann, sie spürt die Wärme und irgendwann vertraute Hände, seinen fordernden Körper, ihn, sich selbst, sie beide und das Glück. Während ihre Sehnsucht nach Ricardo geprägt ist von rauschhafter Fiebrigkeit, fehlt ihr David wie ein Teil ihrer Selbst. Irgendwann verschwimmen beide Männer zu einem gesichtslosen Fremden, dem sie sich ausliefern möchte,
ohne Willen, ohne Vorsicht, ohne Schutz. Im Traum sieht sie sich taumeln und tanzen über einem Feuer, und sie kann nicht anders, als die Hitze zu genießen und zu umarmen wie einen Freund.

Lara hört den Hahn nicht mehr oder hört ihn anders, als flehendes Rufen, als ohnmächtigen Schrei. Dazwischen das leise Schnarchen von Jan, das so friedlich und rührend wirkt, dass sie weinen möchte und ihn umklammern und fragen, was richtig ist und ob sie hier sein soll oder im Grunde woanders.
Ob es überhaupt einen Ort gibt, an den sie gehört oder ob sie ihr Leben lang eine Reisende bleibt. Ob das nicht auf jeden zutrifft und warum dann so viele vom Ankommen träumen. Jans zerzaustes, kurzes Haar schimmert golden, doch in der Silhouette gleicht sein Oberarm dem Ricardos. Sanft geschwungene Muskeln. Wie er das Kissen umschließt, ein glatter, schöner Männerkörper, nach dem sich irgendwo auf der Welt vielleicht eine andere Frau verzehrt.
Die Nacht malt Bilder in unsere Köpfe. Verlangen und Angst bringen sie zum Tanzen. Lara blickt an die Decke und wartet auf den Morgen.”



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