„Ewig lockt das Weib“, meine Güte! Wer war das eigentlich, wer hat „den Spruch gebracht“? *
Die Anführungszeichen wurden verwendet, weil wir uns hier in den Gefilden der kanonisch geadelt Literatur befinden, einem schmuckem Ort, an dem schnoddrige Ausdrücke Missklang verursachen. Dafür dürfen wir dort von „Gefilden der kanonisch geadelten Literatur“ schwafeln, wo auch immer die sein mögen. Vielleicht ja rund um Booksdehude, Buchholz oder gleich hinter den nächsten Bucheckern… Und was finden wir dort heute? Noch ein paar Kalauer? Schauen wir mal…
Ah, Frank Wedekinds „Der Erdgeist“ finden wir dort, ebenfalls bekannt unter dem Namen einer der Figuren dieser Tragödie, die im Personenverzeichnis einfach als „Lulu“ angeführt wird.
Jene Lulu ist eine Frau wechselnden Rufnamens und zweifelhafter Herkunft. Sie wird von Mann zu Mann gereicht, um a.) ein gutes Auskommen und damit feines Leben zu finden und b.) weit weg von dem (im doppelten Sinne) Herrn zu sein, als dessen Geschöpf sie im Stück dargestellt wird.
Dieser Mann, der Chefredakteur Schön, griff sie einst von der Straße auf und erzog sie nicht nur nach bürgerlichen Maßstäben, sondern lehrte sie auch, sich zu verkaufen, ohne diese nach außen hin zu verletzen. Weshalb genau er das tat, wird nicht erklärt. Zwar scheint er sie ebenso wie sie ihn zu lieben, jedoch ist es eine Liebe voller Misstrauen, Furcht und Angst, eher eine Erkrankung als eine achtungsvolle Beziehung zwischen zwei Menschen.
Nicht nur Lulu und Schön stehen in einem ungesunden Verhältnis zueinander, sie erträgt, spielt und verwaltet noch weitere Liebschaften. In ihnen werden anhand verschiedener Ehemänner und Liebhaber episodenhaft männliche Vorstellungen vom „Weib“ vorgestellt. Für diesen ist Lulu ein Besitz, für jenen erotische Lockung, ein anderer sieht in ihr Noblesse verkörpert, ein weiterer eine Prostituierte. Nur was sie selbst zu sein wünscht, schert keinen, und auch wir erfahren es nicht. Sie nimmt die meist Ansprüche hin und entspricht ihnen mit tragischen Folgen, die wie beabsichtigt wirken, obwohl sie nur reagieren darf. Lulu „lockt“ nicht, sie wehrt sich nicht dagegen, als Verlockung betrachtet zu werden.
Die Tragödie wurde 1898 erstmals aufgeführt und sorgte für einen Skandal, der fest in das Stück eingeschrieben scheint, dreht es sich doch um eine der bürgerlichen Moral abholde Frau von immenser erotischer Kraft. Dem Publikum zeigte es freizügige Kostüme, Ehebruch, handfeste Übergriffe, Liebeleien mit einem Pennäler, also minderjährigem Schüler, lesbische Liebe, Tod durch Schock angesichts zweier Personen in flagranti, Selbstmord und Mord. Folgerichtig kam es zu einem Gerichtsprozess, wie ihn damalige Gesetze ermöglichten. Deren Vorhandensein lässt vermuten, dass Wedekind nicht nur ein werbewirksames Stück voller „Sex & Crime“, keine gewinnbringende, anrüchige Sensation im Sinn hatte. Auf drastische Weise stellt „Lulu“ gesellschaftliche Verhältnisse dar, an denen viele gerne teilhatten oder zumindest zuschauten, obwohl es sie laut bürgerlicher Moral nicht geben dürfte.
Kann man „Der Erdgeist“ lesen, nachdem man ihn lesen musste?
Dazu raten würde ich nicht, nein, man versteht ja doch nicht so recht, was sich hinter der für gegenwärtige Umstände etwas abgeschmackt krassen Handlung verbirgt. Vielleicht sollte man es sich an einem Theater ansehen. Gespielt wird es sicher hin und wieder, besonders, nachdem Lou Reed und Metallica ein Konzeptalbum zum Stück aufgenommen haben.
Wer sich jedoch für Literatur jenseits von Unterhaltung interessiert, über Titel wie „Medizinalrat“ freut und Relikte mag, kann getrost zu „Lulu“ greifen. Das grösste dürfte allerdings das sexistische Klischee der “Frau an sich” als unzähmbare Naturgewalt sein.
*Eine selbstverständlich rhetorische Frage. Obendrein müsste es „Und immer lockt das Weib“ heißen. So nämlich lautete die deutsche Übersetzung des Titel eines Films mit Brigitte Bardot aus dem Jahre 1956. Wenn ich schon dumme Phrasen oder Titel zitiere, dann doch zumindest richtig bzw. korrigiert, selbst dann, wenn ich den Film gar nicht kenne und er nichts mit „Lulu“ zu tun hat.