Lust hatte ich nicht, Bernhard Schlinks Bestseller „Der Vorleser“ erneut zu lesen. Er ist eines der wenigen Werke aus meiner Schulzeit, an das ich klare Erinnerungen habe. Es sind keine guten.
Offensichtlich scheußlich ist der Roman nicht, zumindest sein Stil ist schlicht. Dieser erweckt besonders im ersten der drei Teile den Eindruck, man lese eine etwas skandalöse, leicht sentimentale Liebesgeschichte. Zu Beginn wird die Beziehung eines Fünfzehnjährigen zu einer ungefähr zwanzig Jahre älteren, analphabetischen Frau erzählt, und das nicht allzu obszön, weder im Schlechten, noch im Guten. Der Ton bleibt stets melancholisch, ja lakonisch, der Ausdruck gediegen.
Er wird auch dann beibehalten, wenn die Geschichte sich im zweiten Teil der harten Realität zuwendet. In ihm wohnt der Erzähler während seines Jurastudiums einem Prozess gegen ehemalige KZ-Aufseherinnen bei. Eine der Angeklagten ist seine gewesene Geliebte. Das mag etwas gezwungen wirken, doch sollte sich Literatur nicht mit unerhörten Begebenheiten befassen? Wenn sich jemand etwas ausdenkt, dann doch bitte Unwahrscheinliches, die Welt um uns herum ist ja schon da. Unangenehm wird es allerdings, wenn eine erdachte Geschichte wie in „Der Vorleser“ nicht deren Erweiterung dient, sondern sich über Strecken zu einem kommentierenden Essay auswächst, dessen bevorzugtes Mittel die bedächtige Fragerei ist:
„Zugleich frage ich mich und habe mich schon damals zu fragen begonnen: Was sollte und soll meine Generation eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen?“ (S. 99)
oder auch:
„Wie sollte es ein Trost sein, daß mein Leiden an meiner Liebe zu Hanna in gewisser Weise das Schicksal meiner Generation, das deutsche Schicksal war (…).“ (S. 163)
Wie viele andere in „Der Vorleser“ aufgeworfene Fragen dürfte es sich um rhetorische gemeinte handeln. Allerdings lässt sich auf die erste sehr wohl antworten: Um solchen Furchtbarkeiten vorzubeugen, sie nicht zu relativieren, den noch bestehenden Antisemitismus zu bekämpfen, zu zeigen, worauf er hinaus will. Was die zweite anbelangt, wird es schon etwas schwieriger, ist zumindest mir doch unklar, wie einem Menschen zu antworten ist, der von einem „deutschen Schicksal“ weiß und was es mit einer erotischen Beziehung zu einer älteren Frau zu tun haben könnte.
Im dritten Teil erfahren wir ein wenig über das spätere Leben des Erzählers, seine Gefühlskälte und problematische Natur, die er schon früher im Buch mit den Opfern und Tätern des Nationalsozialismus zu teilen glaubt:
„Schon damals, als mich diese Gemeinsamkeit des Betäubtseins beschäftigte und auch, daß die Betäubung sich nicht nur auf Täter und Opfer gelegt hatte, sondern auch auf uns legte (…) als ich dabei Täter, Opfer, Tote, Lebende, Überlebende und Nachlebende miteinander verglich, war mir nicht wohl, und wohl ist mir auch jetzt nicht. Darf man derart vergleichen?“ (S. 99)
Beantwortet wird diese Frage nicht, dabei wäre es diese Mal besonders einfach: Sind die Unterschiede zwischen Nachlebenden mit „deutschem Schicksal“ und den Toten nicht klar genug, die einen sind lebendig, die anderen ermordet? Sie sind es, und man vergleicht beide nur dann miteinander, wenn man nichts dagegen hat, die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern zu verwischen. Die Geliebte und einstige KZ-Aufseherin mit ausgerechnet dem hebräischen Namen „Hanna“ wird suggestiv zum Opfer erklärt, nicht obwohl, sondern weil sie eine Täterin war. Erledigt wird das mithilfe zahlreicher „tiefsinniger“ rhetorischer Fragen. Besonders perfide ist dabei die Andeutung, Hanna sei womöglich nur aufgrund ihrer Unbildung und Schwäche Mörderin geworden.
Kann man „Der Vorleser“ lesen, nachdem man ihn lesen musste?
Die Antwort auf diese keinesfalls rhetorische Frage lautet: besser nicht. Es ist ein behäbiges, betont grüblerisches Werk mit durch Bildung geschönter, immer dezent, doch gedankenschwer raunend erzählter Geschichte, in der Täter und Opfer vermengt werden.