Der Lehrplan (6): Der Tod in Venedig

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todEs steht zu befürchten, dass die Werke Thomas Manns viele junge Menschen von der Lektüre anderen Bücher abhielten und noch immer abhalten.

Nicht etwa, weil sie so fesselnd wären, im Gegenteil. Seine Romane und Erzählungen gelten als das phrasenhafte „gute Buch“ zum Wein, weil alte Männer einst entschieden, ihm eine Medaille („Nobelpreis“) zu übergeben. Nun steht er nichtsdestotrotz keinesfalls zu Unrecht in den Schulbücher und Pubertierende landauf, landab fragen sich, ob wohl jegliche „Weltliteratur“ so sei. Beantworten sie diese Frage mit „Ja.“, halten sie künftig von ihr Abstand und lernen Thomas Mann fürderhin durch Interpretationshilfen, zum Beispiel zu „Der Tod in Venedig“, kennen.

Diese Erzählung behandelt einen für Thomas Mann typischen Konflikt, den zwischen der „Lebenstüchtigkeit“ „einfacher“ Menschen und der erhöhenden, doch krankheitsnahen Dekadenz der Künstler. Ihr Protagonist, ein Schriftsteller mit dem sprechenden Namen „Aschenbach“, ist ein geschätzter Autor seiner Zeit, des frühen 20. Jahrhunderts. Er wurde geadelt, wird in Schulen gelesen und gilt als respektable Figur des öffentlichen Lebens. All das verdankt er einer strengen Disziplin. Für ihn ist Kunst ein Dienst, nichts Romantisches, sondern eine ernsthafte Arbeit. Sein eher kränkliches Naturell bricht anlässlich einer Reise nach Venedig hervor, wo er sich bei der Schwärmerei für einen Jüngling gehen lässt und seinen mühsam erschaffenen Charakter verliert. Dieser Verlust geschieht mit einer solchen Konsequenz, dass er am Ende stirbt. Über seine bürgerliche Existenz hinaus vermag er nicht zu leben.

Diese nicht allzu lange Geschichte wird, wie stets bei Thomas Mann, in langen, mäandernden Sätzen erzählt, wie wir sie im Alltag nicht gebrauchen würden, gefüllt mit Wörtern, die wir in ebendiesem, der den meisten Menschen, ob nun zu Recht oder nicht, als das wirkliche Leben gelten sollte, auch nicht verwenden würden, es weder damals, zu Lebzeiten des Autors, getan haben dürften noch gegenwärtig zu tun gedenken, selbst wenn, wie eben in Manns „Tod in Venedig“, den tiefsten Dingen Ausdruck verliehen werden soll.

So in der Art wie im vorherigen Satz geht es darin zu, nur noch weitläufiger und weitaus besser. Dazu kommen geschickt platzierte Abschweifungen zu allerlei ästhetischen und philosophischen Themen, die Manns gediegen vorgetragene Geschichte nicht ins Stocken bringen. Das Geschehen ist leicht überschaubar, dazu noch gibt es zig Symbole, Andeutungen und Hinweise. Und das nicht, damit wir wissen, worum es geht, sondern weil das „Was wird erzählt?“ bei Mann keine größere Rolle spielt als das „Wie?“. Nämlich mit lauter Hinweisen, deren Interpretation entgegen der landläufigen Meinung vielleicht etwas zu leicht durchführbar ist (siehe der faulige Geruch der Lagune) oder aber zu weit führt (über einen Granatapfelsaft zum Persephone-Mythos). So lässt sich im Unterricht über alles mögliche reden, ohne dass es um das Buch selbst geht. Dann reichen Interpretationshilfen, um durchzukommen, und unsympathisches Lehrpersonal, um den Spaß an Mann zu verderben.

Kann man „Der Tod in Venedig“ lesen, nachdem man ihn lesen musste?

Unbedingt! Thomas Mann ist ein großartiger Autor, der leider nur wenig mit dem zu tun hat, was man sich in der Schule über ihn erzählt. Ja, er ist komplex, aber er ist auch verspielt und ironisch, er parodiert subtil und hat eine angenehme Art, klassische Themen komisch zu behandeln. All das dürfte vor allem schätzen, wer von sich weiß, dass sie oder er gerne und regelmäßig liest, und zwar am besten nicht, um sich unterhalten zu lassen. Wer „Harry Potter“ mag, braucht nichts darauf zu geben, wenn gesagt wird, diese Bücher seien weniger „gehaltvoll“ als Thomas Mann. Sie sind nur anders, sagen wir: Die Geschehnisse in und um Hogwarts zu verfolgen gleicht einem angenehmen Spaziergang, Thomas Mann zu lesen einem Hürdenlauf, für den man etwas Übung braucht. Er ist ein Autor ohne phantastische Ideen, aber voller Hingabe an Sprache und Literatur.



    3 Kommentare:

  • Tollo schreibt am 18. Juli 2016 um 09:14

    bei der Erwähnung von Thomas Mann habe ich aufgehört den Artikel zu lesen.

  • lennart schreibt am 19. Juli 2016 um 20:07

    Das nenne ich mal konsequent. Chapeau!

  • Deutschlehrer schreibt am 24. Juli 2016 um 19:56

    Jeder, wie er kann… (und muss…)

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