Der Lehrplan (10): Fahrenheit 451

Die Kraft der Literatur zu beschwören, klingt zwar romantisch, Bradbury tut es aber auf eine seiner Erzählung angemessene, wenig pathetische Weise.

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Als ich in den 1990ern in einer sächsischen Kleinstadt zur Schule ging, schienen die meisten Erwachsenen optimistisch gestimmt zu sein. Aus zwei deutschen Staaten war ein einziger geworden, man durfte den Marktplatz wieder in den Landesfarben Weiß und Grün beflaggen und alles in zig Variation kaufen, Eis, Sofas und sogar Automobile.

Es dauert lange, bis ich erfuhr, weshalb dem „deutschen Volk“ das vermeintliche Unrecht der Teilung widerfahren war. Wichtiger schien damals der Sieg leidgeprüfter Menschen in Form der „Wende“, Denn die Vergangenheit der DDR war schlecht, doch die Zukunft versprach “blühende Landschaften”, wer wollte da allzu weit zurückblicken? Es schien unvorstellbar, dass die nächsten Jahre etwas Besseres als eine verlängerte Gegenwart mit mehr Möglichkeiten zum Konsum und Besitz bringen würden, die Feinheiten erledigten notfalls Lichterketten, “Dialoge” und “Dritte Welt”-Läden. Der “Sieg” des Kapitalismus, Reisefreiheit und freie Wahlen schienen Utopien nicht nur unnötig gemacht zu haben, sie wurden sogar, der gescheiterte “real existierende Sozialismus” schien es bewiesen zu haben, etwas albern, anzüglich oder gar gefährlich.

Lasen wir in der Schule “Animal Farm”, “1984”, „Schöne neue Welt“ oder “Fahrenheit 451”, stand es außer Frage, dass es sich zwar um Dystopien handelt, sie sich aber eigentlich auf die Schrecken des Kommunismus bezogen, die als überwunden galten, aber nie zurückkehren durften. Wer naiv genug wäre, die Menschen für gleich und gut zu halten, würde wie in ihnen gezeigt früher oder später Schlechtes tun oder sich zum Opfer der Menschen machen, die sich so verhielten, wie Menschen nun eben seien: selbstsüchtig.

Dass diese Interpretation höchst tendenziös und bequem ist, fiel mir erst auf, als ich eines dieser Bücher, Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ in unserer noch immer “alternativlosen” Gegenwart erneut zur Hand nahm. In einer recht nahen Zukunft ist es die Aufgabe der Feuerwehr, die Gesellschaft durch Feuer vor der zersetzenden Wirkung zu schützen, die von Büchern ausgehen, indem sie sie verbrennt. Einer dieser Feuerwehrmänner beginnt daran zu zweifeln, liest und kann sein gewohntes Leben nicht mehr weiterführen.

Die Kraft der Literatur zu beschwören, klingt zwar romantisch, Bradbury tut es aber auf eine seiner Erzählung angemessene, wenig pathetische Weise. Menschen sind ohne sie permanent Medien wie Radio und Fernsehen ausgesetzt, es herrscht Krieg, Gewalt und Mord sind ein „Sport“ jugendlicher Menschen, ohne Medikamente findet sich kein Schlaf und trotzdem halten sich die Bewohner dieser Welt für glücklich. Ihre Leben sind überfüllt und gleichzeitig beschränkt, sie besitzen weder Phantasie, noch sind sie geübt im bloßen, praktischen Denken oder Gesprächen, was aber nicht durch Erläuterungen des Autors, sondern ihr Tun und Reden deutlich wird. Sie können ihre Lage nicht reflektieren und gehen davon aus, dass die Welt, wie sie ist, die bestmögliche ist.

Kann man „Fahrenheit 451“ lesen, nachdem man es lesen musste?

Bradbury mag beim Verfassen vom Vorgehen der Regierung der USA während des Kalten Krieges der 1950er, der Zensur und der Angst vor einem Atomkrieg beeinflusst worden sein, mehr als die Umstände der Entstehung werden damit aber nicht beschrieben. Es ging in dieser Reihe schon öfter darum, dass eine Interpretation im Sinne des berüchtigten „Was will uns der Dichter damit sagen?“ ziemlicher Murks ist, denn mehr, als in seinem Werk zu lesen ist, hat er offensichtlich nicht sagen wollen. Das ist hier nicht anders, „Fahrenheit 451“ ist eine knackige, pulpige Sci-Fi-Geschichte, keine Parabel, die uns irgendetwas auf irgendwelchen Umwegen mitzuteilen hat. Ihr Kulturpessimismus ist ebenso unmittelbar wie ihre Beschreibung des Grauens in einer totalitären Gesellschaft, in der sogar Selbstmorde unbewusst begangen werden. In diesem Buch finden wir nichts, was uns nicht eh schon in unserer Welt begegnet, es ist keine verklausulierte Warnung, es ist Kunst, und mit ihr sollten wir uns immer befassen.



    3 Kommentare:

  • Sven schreibt am 14. Mai 2017 um 17:35

    schön geschrieben und trifft es auf den Punkt! :) Tolles Buch und übrigens auch toller Film von Francois Truffaut. Für mich in den Top 5 der Novell Vague Hitliste. Wird auch gerade neu verfilmt, falls Du es noch nicht mitbekommen haben solltest :)

  • tollo schreibt am 16. Mai 2017 um 12:21

    super Buch, und erschreckend in der heutigen Zeit diese Buch zu lesen.

  • Lennart schreibt am 17. Mai 2017 um 19:11

    Danke, Sven! Den von Truffaut kenne ich noch nicht, aber ich hole das nach. Kommt mir anonsten irgendwie wie ein Computerspiel vor, das Buch. Wäre ein tolles Adventure.

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