“Meine Gedanken sind meine besten Freunde.” Das sagt über sich: Prinzessin Dylia, die Hauptfigur von Walter Moers´ neuem Zamonien-Roman Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr (Partnerlink). Und es sagt ebenfalls über sich: Lydia Rode, die das Buch illustriert und Moers seinem Nachwort zufolge zu der Geschichte inspiriert hat. Dieser Satz verrät Einiges über das Buch, die Protagonistin, die Künstlerin und auch Moers selbst, ja, er könnte fast programmatisch über dem Gesamtkunstwerk Zamonien stehen.
Prinzessin Dylia leidet unter einer Krankheit, die so selten, ja einzigartig ist, dass sie schlicht “die Krankheit” genannt wird. Sie kann nicht schlafen – tagelang, manchmal wochenlang, und das bisschen Schlaf, das sich danach einstellt, ist von dem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, in dem sie ihre Tage (und vor allem Nächte) verbringt, kaum zu unterscheiden. Familie und Freunde haben sie längst als Sonderling abgeschrieben, und so wandelt sie durch die Türme des Schlosses, hypersensibel, die Gedanken auf Hochtouren und doch traumwandlerisch, im Mondlichtbad auf der Suche nach neuen Wörtern für Niegekanntes, nach Gedankebildern für noch kaum Empfundenes und nach Konzepten und Einfällen, die nur denen verstiegen erscheinen, die nicht mit ihr die Stiegen ersteigen.
Eines Nachts sucht sie der Nachtmahr Havarius Opal heim, und kündigt an, sie in den Wahnsinn treiben zu wollen. Aus falscher Freundlichkeit bietet er ihr zuvor eine Reise in das Innere des eigenen Hirns an, um ihr statt dem unausweichlichen Fenstersprung den Gang in ins dunkle Herz der Nacht, die Umnachtung als barmherzigen Ausweg zu eröffnen.
Dylia willigt ein, und bekommt es an der Seite des Nachtmahrs mit Zergessern und Grillos, der Spinne ihrer Erinnerung, Irrschatten, Egozetten, Gedankennebeln und der ins Monströse verzerrten buckligen Verwandtschaft zu tun. Sie lernt das Flimmen, erinnert sich an zungenbrecherische Pfauenwörter, lernt ihre Zwielichtzwerge zu verstehen und erfährt einiges über das Traumiversum. Ihr weg führt sie nach Amygdala, über die große Fissur und die Weiten des Subconsciounellen Sumpfes.
Und natürlich kommen sich Prinzessin und Mahr im Lauf der Reise näher, und natürlich stellt sich alsbald heraus, dass Opal nicht ganz das ist, was er scheint.
Die aberwitzige Reise führt Moers zu einem märchenhaften, bittersüßen Ende, das die Leserin wehmütig, aber sehr zufrieden zurücklässt.
Dass die eigenen Gedanken die besten Freunde seien – dafür wirbt Moers hier anhand der Figur Dylias so mitreißend und fantasievoll, dass man bald meint, ebenso wie die Prinzessin Langeweile nicht mehr kennen zu müssen, ist doch das neugierige Fragen nach dem scheinbar Absurden und der Dreh des Gewöhnlichen ins Nochniedagewesene nur einen gedanklichen Sommersalto entfernt. Obwohl Moers sich mit der Einleitung zu seiner Geschichte viel Zeit lässt, kommt dabei keinerlei Ungeduld auf. Der Autor suhlt sich an der Seite seiner Figur in der Sprache wie ein frisch geborenes Ferkelchen im Schlamm, und nur zu gern folgen wir ihm von Abschweifung zu Abschweifung, über die vielen Stufen der immer rascher plätschernden Wortkaskaden und noch um jede Ecke jeder noch so schmerzlich-schön gedehnten Gedankenverbindung, bis wir gemeinsam mit der Prinzessin auf den höchsten Turm ins Mondlichtbad verstiegen und der Welt abhanden gekommen sind.
Auch als die Handlung mit der Ankunft Opals Fahrt aufnimmt, bleibt die Fabel einfach gestrickt: die beiden Reisenden ziehen von einer Sehenswürdigkeit zur anderen und ergehen sich in geistreichen Sticheleien, bis die Prinzessin auf dem Höhepunkt der Geschichte dem Mahr mit etwas schwerem Herzen doch noch ein Schnippchen schlägt, und zwar gerade weil sie so mondsüchtig und gedankenverloren ist, dass sie zwischen dem Bildhaften und Konkreten nicht unterscheiden muss.
Nicht, das was der Geschichte ist hier das Entscheidende, obwohl Moers um Einfälle natürlich nicht verlegen ist. Wer auf modernes Erzählen aus der Schreibschule getrimmt ist, und wohlgesetzte Wendepunkte nach Drehbuchschema im sachdienlichen Wortgewand erwartet, der wird sich vielleicht sogar langweilen. Er verpasst nur so schrecklich viel. Wie beim Marsch durch den Brägen oder den Tanz durchs Cerebellum ist auch hier das wie ganz entscheidend.
Beil all den Nachtmahren, mondsüchtigen Prinzessinnen und unerhörten Landschaften sollte nicht überraschen, dass auch das sprachliche Instrumentarium durch und durch romantisch ist – nicht im Sinne von Kitsch natürlich, sondern im Sinne der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In einem Interview mit der Welt bekannte sich Moers zu Arno Schmidt und dessen Verehrung der “haidnischen Altertümer”, also der halb vergessenen Aufklärer und Romantiker (ja, das ist gelegentlich nicht weit voneinander entfernt) mit ihrer Wort- und Gedankenlust, die das Publikum eben gerade nicht vergessen machen wollen, dass es gerade eine Geschichte liest, sondern zum Vergnügen und zur Geistesspitzung mit der Situation des Erzählens und Zuhörens spielen. Wie sie dreht sich Moers das Wort im Munde um, liebt die Aufzählung, die Alliteration, den Reim, die Liste, die Ab- und Anschweifung, die Randbemerkung, die Volte, die Ironie, das Wortspiel und das Spiel überhaupt. Abgeschmeckt wird das Ganze für die heutige Leserin mit der Frische der Umgangssprache und dem einen oder anderen Körnchen Popkultur aus dem kollektive Unterbewusstsein. Und nichts passte besser zu diesem Stoff der Reise durchs Denken selbst.
Die Gestaltung des Buches fügt sich perfekt dazu. Es ist, das merkt man gleich nach dem Aufschlagen, ein wunderschönes Buch. Rodes Zeichnungen, zart koloriert, erinnern sehr an Moers eigene Kunst und haben doch etwas völlig Eigenständiges. Die Bilder durchbrechen und hinterlegen an entscheidenden Stellen den Text, sodass sich hübsche Bezüge und Zusammenspiele ergeben, etwa, wenn wir uns gerade über die bunten Punkte hinter dem Text wundern, und dann schon bald auch die Figuren über solche Farbflecke stolpern – der Trick mit der roten und grünen Schrift in der Unendlichen Geschichte wirkt dagegen bieder. Dass “Dylia” und “Lydia” Anagramme sind, ist übrigens kein Zufall, denn die Lebens- und Krankheitsgeschichte der Künstlerin, die unter dem chronischen Erschöpfungssyndrom leidet, war für das Buch Inspiration und Wegweiser. Dass die eigenen Gedanken die besten Freunde sind, das kann eben auch Kraft und Mut spenden, denn schließlich hat man sie immer dabei und gewinnt durch sie Macht noch über Krankheit und Tod.
Diese Glaube an die Kraft der Fantasie, an den schon fast altmodisch gewordenen Vorsatz, man solle doch den Mut haben, sich seines Verstandes zu bedienen, sich selbst kennen zu lernen, das macht die sehr stärkende Botschaft dieses Buches, aber auch der Welt Zamonien insgesamt aus, die mit jedem Wort wissen lässt, dass das Eigentümliche das ist, was die Welt wirklich groß und frei macht.
Bei einem Buch, in das sichtlich so viel Liebe und Sorgfalt geflossen ist, nimmt es etwas wunder, dass das Lektorat hier und da ein bisschen zu sehr die Zügel hat schießen lassen. Es ist sicherlich nicht leicht, dem einzigartige Moers´schen Duktus aus Flapsigkeit einerseits und barockem Überfluss andererseits als Begleiter gerecht zu werden. Dass aus einer “Biegung” eine “Abbiegung” wird und jemand bei dem Versuch, etwas offensichtlich unzählbares “abzuschätzen” bei “einigen hunderttausend” landet, um nur wenige Beispiele zu nennen, das muss nicht sein. Es sind ganz gewöhnliche Fehlerchen, wie sie jedem Autor, jeder Autorin selbstverständlich unterlaufen, umso netter wäre es gewesen, man hätte sie dezent herausgeflöht. Ziemliche Beckmesserei, zugegeben. Aber bei einem derart sprachverliebten, sprachverknallten Buch fallen solche allerzartesten Misstöne viel eher auf, als bei einem Schinken aus der Hohlknochen- und Wanderstricher-Ecke, bei dem eh alles wurst ist.
Man muss dieses Buch kaufen und lesen, so viel ist klar. Man darf sich nebenbei auch darüber freuen, das Moers so viel Erfolg hat und jetzt auch noch Talente wie Rode in seinen Kosmos zieht. Die Leute sind vielleicht doch nicht so blöde, wie man immer denkt, wenn Zamonien so viele Freunde und Freundinnen hat. Moers ist, ganz zu recht, einer der wenigen deutschen Autoren, zumal Fantasy-Autoren, die auch international Beachtung finden. Einer der wiederum Größten aus der englischsprachigen Welt, der Hexenmarxist China Miéville, hat ihm in seinem Roman UnLonDun (Partnerlink) Tribut gezollt.
Wenn in der Fantasy-Branche zuletzt gejammert wird, man finde im Feuilleton nicht genügend Beachtung, dann wollen wir etwas hämisch entgegen halten: ganz einfach, wie Moers schreiben (sie können’s ja doch nicht). Statt ein x-tes und y-stes Mal die zombiehaften Prosaformen des Endloszyklus mit der als floretthaften Biegsamkeit ausgegebenen Spracharmut nachzuschmaddern wie unbeholfene Volkshochschüler im Ton herumhudeln – lieber die Hoffmanns, Wielands, Droste-Hülshoffs und von Günderrodes lesen, Erika Fuchs noch hinterher, und dann etwas Eigenes machen. Und umgekehrt wollen wir aber doch dem Feuilleton sagen: in der Krise des Gedruckten bitte nicht weiter unsere Besten auch noch ignorieren. Moers ist ein großer Fantasyautor, ein großer Autor, ein großer Künstler. Wir wollen zu seinen Gunsten dankbar auf alles verzichten, was die zu oft Gelobten noch mit letzter Tinte loswerden müssen. Seine Bücher gehören zum Schatz des Heutigen.
2 Kommentare:
Gastautoren, die Rezensionen von Literaturwissenschafts-Hausarbeits-Format haben … da sag noch einer selbst ein Kotzendes Einhorn könne nicht noch über sich hinauswachsen. Zum mal, wenn es um Walter Moers geht. Meiner bescheidenen Meinung nach, hätte der mal den Nobelpreis kriegen sollen, statt dem Flakhelfer.
Korrektur: haben = schreiben … das Literaturwissenschaftsstudium ist doch schmerzhaft lange her, mea culpa!